Paris den 12ten October 1850.

 
 Liebster Laube!
   
20Schon seit einem Jahrhundert habe ich Lust oder vielmehr Unlust, Dir zu
 schreiben; aber ich wollte eine gute Stunde abwarten, wo kein körperliches
 Mißbehagen den moralischen Unmuth steigert. Aber die Stunde kam nicht,
 und in einer Stimmung, die desperater als je, schreibe ich Dir heute. Ich habe
 bereits diesen Morgen meine Frau bis zu Thränen gequält und jetzt kommt
25die Reihe an Dich, dem ich jetzt in der plumpsten Weise das Unangenehme
 Erläuterung zu: Deinem Buchesagen will, das ich Dir bei besserer Laune viel glimpflicher oder überzuckert
 beigebracht hätte. Es gilt dieses zunächst Deinem Buche über das deutsche
 Parlament, das ich vor länger als 6 Monaten gelesen und doch noch nicht
 verdauet habe. Verschweigen darf ich Dir das nicht, oder kann ich Dir es
30nicht, dazu bin ich zu sehr Deutscher. Doch wozu lange verschimmelten Ärger
 wieder durchkäuen: soviel wisse, daß mich das Buch 8 Tage lang todtkrank
 machte. Es ist ein sehr gut geschriebenes Buch, das beste was ich von Dir
 gelesen habe, und Dein Verbrechen ist umso größer. Ja Du hast ein Ver-
 brechen an dem heiligen Geist begangen und Du weißt, daß diese Sorte von
35Verschuldungen keine Vergebniß finden. Es betrübt mich zugleich der
 
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 Gedanke, welcher schrecklichen Sühne Du dadurch entgegen gehst. Möge
 die Hand Gottes einst nicht zu schwer auf Dir lasten, denn ich weiß, daß Du
 wie ich selber, bei meinen sündigsten Handlungen nur aus Dummheit ge-
 frevelt. Du hast Geist genug, um Dummheiten begehen zu dürfen; was bei
5dem Mittelmäßigen ganz unstatthaft ist, muß man dem Großen manchmal
 erlauben. Das Schreckliche ist, daß Deine Gegner, die Dich mit dem Maßstab
 Mitteilung zu: nichihrer eignen Gemeinheit messen, Deine Handlung nich der Dummheit
 sondern der Klugheit zu schreiben. Wie weit ich davon entfernt bin, an die
 Motive zu glauben, die Dir der republikanische Tugendpöbel mit mehr oder
10Mitteilung zu: fideminder bona fide andichtet, kannst Du Dir leicht vorstellen; ich begreife
 wie Du die Helden Deiner ehemaligen Parthei – (Du hast vielleicht vergessen,
 daß Du zur revolutionairen Parthei gehört hast und als ein Koryphäe derselben
 Erläuterung zu: genug erduldetgenug erduldet hast) – wie Du hohle Lieberale, strohköpfige Republikaner
 und den schlechten Schweif einer großen Idee, mit Deinem prickelenden,
15Mitteilung zu: leichtesdurchhechelnden Talente lächerlich machen konntest – leichtes Spiel hattest
 Du jedenfalls, da Du diese Personen nur getreu abzukonterfeien brauchtest,
 und die Natur Dir hier zuvorgekommen, indem sie Dir die Karrikaturen
 bereits fix und fertig vorgeführt, an die Feder geliefert – Du hast kopflose
 Mitteilung zu: gulliotinirtMenschen gulliotinirt. Aber ich begreife nicht, wie Du mit einer stoischen
20Mitteilung zu: Mittelm###228;###223;igerenBeharrlichkeit der Lobpreiser jener Schlechtern und noch Mittelmäßigeren
 Mitteilung zu: jener Heroensein konntest, jener Heroen, die kaum werth sind, ihren geschmähten Gegnern
 die Schuhriemen zu lösen, und die sich resumiren in dem Edlen von Gagern,
 diesen Achilles, dessen Homer Du geworden bist. Du hast ihn so lieblich
 geschildert, daß wenn ich Pederast wäre, dieser Mann mein Mann werden
25Mitteilung zu: ebenfallsmüßte, und ich ihm ebenfalls den Pelyten-Steiß küssen würde. Wie schade,
 Mitteilung zu: Mutterdaß seine Mutter Thetis ihn nicht bei den Fersen sondern bei dem Kopf
 faßte, als sie ihn in den Styx tauchte, so daß der Kopf, der verletzliche schwäch-
 lichste Theil des Edlen wurde. Doch kein Wort mehr – auch werde ich ge-
 stört in diesem Augenblicke, – genug ich habe Dir meine Meinung gesagt,
30unbekümmert um welchen Preis.
 Erläuterung zu: mein Ballet  Und nun zu einem ebenfalls trüben Gegenstand. Über mein Ballet hast
 Du mir kein Wort wissen lassen, welche Saumseligkeit um so tadelhafter, da
 erstens mein Körperzustand nicht der Art ist, daß ich auf Etwas lange warten
 darf, und da ich Dir zweitens unumwunden den Grund angegeben habe, warum
35ich diese Sache gefördert zu sehen wünschte, warum es mit ihrer Förderung
 Eile hat. Es handelt sich hier nicht von einem literarischen Inter-
 Mitteilung zu: nieesse, es stachelt mich hier nicht die Ruhmsucht, die mich überhaupt nie sehr
 gestachelt hat und ihre hinlängliche Befriedigung hier auf Erden fand; es
 handelte sich um die Interessen meines Suppentopfs, weit respectablere
 
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 Interessen, die mich leider bis zum letzten Augenblick beschäftigen. Was ich
 Dir bereits früher darüber geschrieben, hast Du vielleicht vergessen; meine
 Krankheitskosten haben sich seitdem vergrößert, es ist grauenhaft, wie ich
 nicht blos leiblich sondern auch finanziell abgezehrt bin. Es liegt ein Fluch
5Mitteilung zu: stehe ichauf meinen Finanzen. Mit meinen Sippen und Magen stehe ich denselben
 häkelichen Verhältnissen. Mein Vetter giebt mir eine höchst anständige
 Mitteilung zu: EuchSumme jährlich, die aber doch nicht hinreicht, weil ich in Paris wohnen muß;
 eine Transportirung nach Deutschland ist gar nicht mehr möglich, so sehr
 bin ich herunter, ich würde die Reise keinen Monat überleben, die Transport-
10Erläuterung zu: Dr. Joseph Bacherkosten wären verloren. Ueber diese Punkte sprach ich hier mit dem Dr. Joseph
 Mitteilung zu: der HeroenBacher, den Du seit dem in Wien gesehen haben wirst, und der Dir gewiß
 unsere Unterhaltung mitgetheilt hat. Er hatte die Idee, daß ich ein poetisches
 Erläuterung zu: SubscriptionBuch auf Subscription herausgeben solle und machte sich anheischig, mir da-
 durch zu einer bedeutenden Summe zu verhelfen. Die Idee lächelte mir
15nicht sehr, sie grinste mir vielmehr etwas säuerlich ins Gemüthe, da ich der-
  gleichen immer für eine versteckte Bettelei ansah, obgleich unsere bedeutend-
 sten deutschen Schriftsteller sich einer solchen Form unterzogen. Ich wäre
 gern aus dieser Welt gegangen, ohne je auf den Dank meiner deutschen Mit-
 bürger Anspruch gemacht zu haben. Ich habe die gemeineren Berührungen
20mit dem Publikum immer Campen überlassen. Und das soll nun anders sein,
 noch kurz vor meinem Tode – ein verdrießlicher Gedanke ist es mir, zu
 einem solchen Hülfsmittel meine Zuflucht nehmen zu müssen. Konferire
 hierüber mit Herrn Bacher, der mir auch in Bezug auf das Ballet seinen Mit-
 Erläuterung zu: meinen Brudereifer versprochen. – Ich weiß nicht, ob Du meinen Bruder nicht gesehen, da
25ich ihm noch immer nicht geschrieben habe, und vielleicht auch nicht sobald
 Mitteilung zu: sodazu komme, ihm zu schreiben, so wäre es mir lieb, wenn Du ihm authentische
 Nachrichten von mir gäbest, da in deutschen Blättern so viel Widersinniges
 Mitteilung zu: gerdetvon mir gerdet wird. Solltest Du mit dem Ballet zu keinem Resultate ge-
 kommen sein und auch kein nahes vorhersehen, so bitte ich, dieses Manu-
30script sehr stark versiegelt an meinen Bruder zu geben mit dem Bemerken,
 daß ich ihm seiner Zeit, anzeigen werde, wie ich darüber verfügen will. Ich
 bitte Dich auch, Herrn Bacher anzugehen, daß er mir über die besprochene
 Erläuterung zu: habe Dir auch geschriebenAngelegenheit, sobald als möglich schreibt. Ich habe Dir auch geschrieben,
 daß Du meine kleine Tragödie William Ratkliff einmal durchlesen und mir
35sagen solltest, ob sie für das Theater zurichtbar sei, in welchem Falle ich mich
 namentlich erböte, die vielleicht mißfälligen Geistererscheinungen darin aus-
 zumerzen und noch ein oder zwei Szenen hinzuzudichten, um dem Einwurf
 einer zu großen Kürze zu entgehen. Aber ich habe auch hierüber von Dir
 keinen Brief erhalten.
 
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   Mein Zustand hat sich insofern verschlimmert, daß meine Kontractionen
 Mitteilung zu: dezitirterstärker und dezitirter geworden. Ich liege zusammengekrümmt, Tag und
 Nacht in Schmerzen, und wenn ich auch an einen Gott glaube, so glaube ich
 doch manchmal nicht an einen guten Gott. Die Hand dieses großen Thierquälers
5liegt schwer auf mir. Welch ein gutmüthiger und liebenswürdiger Gott war
 ich in meiner Jugend, als ich mich durch Hegels Gnade zu dieser hohen Stel-
 lung emporgeschwungen! Ich lebe ganz isolirt und sehe wenig Deutsche,
 Erläuterung zu: Mei###223;ner war hieraußer durchreisende Fremde. Meißner war hier und ich sah ihn viel. Auch
 Erläuterung zu: Moritz Hartmannseinen großen Landsmann Moritz Hartmann sah ich dieser Tage; ist ein sehr
10hübscher Mensch, und alle Frauenzimmer sind in ihn verliebt, mit Ausnahme
 der Musen. Er ist hier im Gefolge von Adolph Stahr und Fanny Lewald,
 bei welchen er lohnlakayert und sich ein literarisches Trinkgeld verdienen wird.
 Erläuterung zu: Stahr's Reise nach ItalienStahr's Reise nach Italien habe ich mit großem Vergnügen gelesen. Deinen
 politischen Glaubensgenossen, A. Weill sehe ich gar nicht mehr.
15Erläuterung zu: BambergerMonsieur Bamberger, der berühmte Hebbellist hat sich einige kleine Stin-
 Erläuterung zu: Meyerbeer an mir gehandeltkereychen zu Schulden kommen lassen und bleibt jetzt weg. Wie Meyerbeer
 an mir gehandelt hat, als er glaubte, ich sei schon todt und nicht mehr exploi-
 Erläuterung zu: Seufferttirbar, ist Dir bekannt; er ist wieder hier in Ruhmgeschäften. Seuffert hatte
 sich einigermaßen vom Soff zurückgezogen und sich der Religion in die Arme
20geworfen; jetzt aber scheint er beides vereinigen zu wollen und noch oben-
 drein die Liebe hinzuzufügen: er ist verliebt und Bachus, Christus und Amor
 bilden jetzt seine Dreieinigkeit. Er ist aber von allen Hiesigen der Beste
 Mitteilung zu: Karbelesund jedenfalls der Geistreichste. Karbeles hat geheirathet, und zwar eine junge
 Erläuterung zu: BalzacDame, die ihn an Schönheit übertrifft. Meinen Freund Balzac habe ich ver-
25 loren und beweint. George Sand, das Luder hat sich seit meiner Krankheit
 nicht um mich bekümmert; diese Emancipatriçe der Weiber oder vielmehr
 Erläuterung zu: Emancimatri###x00e7;ediese Emancimatriçe hat meinen armen Freund Chopin in einem abscheulichen
 aber göttlich geschriebenen Roman auf's Empörendste maltraitirt. Ich ver-
 liere einen Freund nach dem andern und bey denen die mir übrig bleiben er-
30 probt sich das alte Sprichwort: Freunde in der Noth gehn sechzig auf ein
 Loth –
   Aber das Sprichwort ist doppelschneidig, es kritisirt nicht blos die Beklagten
 sondern auch den Kläger: mich trifft jedenfalls der Vorwurf daß ich in der
 Wahl meiner Freunde sehr kurzsichtig war und ich deren so leichte wählte.
35Welche Menge Freunde muß ich jetzt haben, daß mir ein Pfund heraus-
 kommt.
 Erläuterung zu: bald Antwort  Schreibe mir bald Antwort, meine Adresse ist: rue d'Amsterdam 50. –
 Mitteilung zu: KampeIch vergaß Dir oben zu sagen, daß ich mit meinem Freunde Kampe noch
 immer in derselben Lage stecke; dieser Freund in der Noth hat mir seit länger
 
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 Erläuterung zu: nicht geschriebenals 2 Jahren nicht geschrieben, beschränkt sich darauf, die halbjährigen Wech-
 sel zu zahlen, die ich contractmäßig auf ihn trassire, eine geringe Summe,
 welche nicht einmal ausreichen würde, meine Krankenwärterin zu bezahlen,
 Mitteilung zu: t###228;glichindem ich dieser Person außer der Beköstigung täglich 5 frc. zahlen muß.
5Deine Frau laß ich freundschaftlich grüßen, so wie auch meine Mathilde,
 Mitteilung zu: diedie Euch beiden die hübschesten Dinge (bien des choses) sagen läßt. Ich wünsche
 Euch Gesundheit und Heiterkeit und empfehle Euch dem besondern Schutze
 Gottes.
 
Heinrich Heine.
   
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