Paris den 3 Januar 1846. 

 
 Theuerster Varnhagen!
   
 Es ist dieses der erste Brief den ich in diesem neuen Jahre schreibe und ich
 beginne ihn mit dem heitersten Glückwunsch. Möge in diesem Jahre leib-
10 liches wie geistiges Wohlseyn Sie beglücken! Daß Sie von körperlichen Leiden
 oft niedergedrückt, höre ich hier mit großer Betrübniß. Ich hätte Ihnen gern
  zuweilen ein tröstendes Wort zugerufen, aber Hekuba ist eine schlechte
 Trösterinn. Mir ging es nemlich in der jüngsten Zeit spottschlecht und das
 Schreiben selbst erinnert mich beständig an mein körperliches Mißgeschick:
15ich kann kaum meine eignen Schriftzüge sehen, indem ich ein ganz geschlos-
 senes und ein bereits sich schließendes Auge habe, und jeder Brief mir eine
 Pein. Ich ergreife daher mit innigster Freude die Gelegenheit Ihnen durch
 einen Freund mündlich Nachrichten von mir zukommen zu lassen, und da
 dieser Freund eingeweiht ist in allen meinen Nöthen kann er Ihnen umständ-
20 lich mittheilen, wie entsetzlich mir von meinen nächsten Sippen und Magen
 Erläuterung zu: mitgespielt wordenmitgespielt worden, und was etwa in dieser Beziehung noch für mich zu thun
 Mitteilung zu: diesenwäre. Mein Freund, Herr Lassalle, der Ihnen diesen Brief bringt, ist ein junger
 Mann von den ausgezeichnetsten Geistesgaben: mit der gründlichsten Gelehr-
 samkeit, mit dem weitesten Wissen, mit dem größten Scharfsinn, der mir je
25vorgekommen, mit der reichsten Begabniß der Darstellung, verbindet er eine
 Mitteilung zu: WillensEnergie des Willens und eine Habilité im Handeln, die mich in Erstaunen
 setzen, und wenn seine Sympathie für mich nicht erlöscht, so erwarte ich von
 Erläuterung zu: Vorschubihm den thätigsten Vorschub. Jedenfalls war diese Vereinigung von Wissen
 und Können, von Talent und Charakter, für mich eine freudige Erscheinung,
30und Sie, bey Ihrer Vielseitigkeit im Anerkennen, werden gewiß ihr volle
 Mitteilung zu: istGerechtigkeit widerfahren lassen. Herr Lassalle ist nun einmahl so ein aus-
 geprägter Sohn der neuen Zeit, die nichts von jener Entsagung und Beschei-
 denheit wissen will, womit wir uns mehr oder minder heuchlerisch in unserer
 Zeit hindurchgelungert und hindurchgefaselt – Dieses neue Geschlecht
 
  Januar 1846 — HSA Bd. 22, S. 181
 
 Mitteilung zu: genie###223;enwill genießen und sich geltend machen im Sichtbaren; wir, die Alten, beugten
 uns demüthig vor dem Unsichtbaren, haschten nach Schattenküssen und
 blauen Blumengerüchen, entsagten und flennten, und waren doch vielleicht
 glücklicher als jene harten Gladiatoren, die so stolz dem Kampftode entgegen-
5gehn. Das tausendjährige Reich der Romantik hat ein Ende, und ich selbst
 war sein letzter und abgedankter Fabelkönig. Hätte ich nicht die Krone vom
 Haupte fortgeschmissen und den Kittel angezogen, sie hätten mich richtig
 geköpft. Vor vier Jahren hatte ich, ehe ich abtrünnig wurde von mir selber,
 noch ein Gelüste mit den alten Traumgenossen herum zu tummeln im Mond-
10schein – und ich schrieb den Atta Troll, den Schwanengesang der unter-
 Erläuterung zu: Ihnen gehenden Periode, und Ihnen habe ich ihn gewidmet. Das gebührte Ihnen
 Mitteilung zu: meindenn Sie sind immer mein wahlverwandtester Waffenbruder gewesen, in
 Spiel, und Ernst; Sie haben gleich mir die alte Zeit begraben helfen und bey
 der neuen Hebammendienst geleistet – ja, wir haben sie zu Tage gefördert
15und erschrecken – Es geht uns wie dem armen Huhn das Enteneyer aus-
  gebrütet hat und mit Entsetzen sieht wie die junge Brut sich ins Wasser
 stürzt und wohlgefällig schwimmt!
 Erläuterung zu: Atta Troll herauszugeben  Ich bin durch Buchhändler-Vertrag verpflichtet den Atta Troll heraus-
 zugeben; das soll in einigen Monathen geschehen, mit Vorsicht, damit man mir
20nicht den Prozeß macht und mich köpft.
   Sie merken, theurer Freund, wie vague, wie ungewiß mir zu Muthe ist.
 Solche schwachmatische Stimmung ist jedoch zumeist in meiner Kränklichkeit
 begründet; schwindet der Lähmungsdruck, der gleich einem eisernen Reif
 Mitteilung zu: mirmir die Brust einklemmt, so wird auch die alte Energie wieder flügge werden.
25Ich fürchte jedoch das wird noch lange dauern. Der Verrath der im Schooße
 der Familie, wo ich waffenlos und vertrauend war, an mir verübt wurde, hat
 mich wie ein Blitz aus heiterer Luft getroffen und fast tödtlich beschädigt;
 wer die Umstände erwägt, wird hierin einen Meuchelmords-Versuch sehen;
 die schleichende Mittelmäßigkeit, die zwanzig Jahre lang harrte, ingrimmig
30neidisch gegen den Genius, hatte endlich ihre Siegesstunde erreicht. Im
 Grunde ist auch das eine alte Geschichte, die sich immer erneut.
   Ja, ich bin sehr körperkrank, aber die Seele hat wenig gelitten; eine müde
 Blume ist sie ein bischen gebeugt, aber keineswegs welk und sie wurzelt noch
 fest in der Wahrheit und Liebe.
35  Und nun leben Sie wohl, theurer Varnhagen; mein Freund wird Ihnen sagen
 wie viel u wie unaufhörlich ich an Sie denke, was um so begreiflicher, da
 Mitteilung zu: Winterabendenich jetzt gar nicht lesen kann, und bey den langen Winterabenden nur von
 Erinnerungen mich erheitere.
 
Heinrich Heine
 
46. Faubourg Poisonnière
 
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