| Theuerster Varnhagen! | ||
| Es ist dieses der erste Brief den ich in diesem neuen Jahre schreibe und ich | ||
| beginne ihn mit dem heitersten Glückwunsch. Möge in diesem Jahre leib- | ||
| 10 | liches wie geistiges Wohlseyn Sie beglücken! Daß Sie von körperlichen Leiden | |
| oft niedergedrückt, höre ich hier mit großer Betrübniß. Ich hätte Ihnen gern | ||
| zuweilen ein tröstendes Wort zugerufen, aber Hekuba ist eine schlechte | ||
| Trösterinn. Mir ging es nemlich in der jüngsten Zeit spottschlecht und das | ||
| Schreiben selbst erinnert mich beständig an mein körperliches Mißgeschick: | ||
| 15 | ich kann kaum meine eignen Schriftzüge sehen, indem ich ein ganz geschlos- | |
| senes und ein bereits sich schließendes Auge habe, und jeder Brief mir eine | ||
| Pein. Ich ergreife daher mit innigster Freude die Gelegenheit Ihnen durch | ||
| einen Freund mündlich Nachrichten von mir zukommen zu lassen, und da | ||
| dieser Freund eingeweiht ist in allen meinen Nöthen kann er Ihnen umständ- | ||
| 20 | lich mittheilen, wie entsetzlich mir von meinen nächsten Sippen und Magen | |
| mitgespielt worden, und was etwa in dieser Beziehung noch für mich zu thun | ||
| wäre. Mein Freund, Herr Lassalle, der Ihnen diesen Brief bringt, ist ein junger | ||
| Mann von den ausgezeichnetsten Geistesgaben: mit der gründlichsten Gelehr- | ||
| samkeit, mit dem weitesten Wissen, mit dem größten Scharfsinn, der mir je | ||
| 25 | vorgekommen, mit der reichsten Begabniß der Darstellung, verbindet er eine | |
| Energie des Willens und eine Habilité im Handeln, die mich in Erstaunen | ||
| setzen, und wenn seine Sympathie für mich nicht erlöscht, so erwarte ich von | ||
| ihm den thätigsten Vorschub. Jedenfalls war diese Vereinigung von Wissen | ||
| und Können, von Talent und Charakter, für mich eine freudige Erscheinung, | ||
| 30 | und Sie, bey Ihrer Vielseitigkeit im Anerkennen, werden gewiß ihr volle | |
| Gerechtigkeit widerfahren lassen. Herr Lassalle ist nun einmahl so ein aus- | ||
| geprägter Sohn der neuen Zeit, die nichts von jener Entsagung und Beschei- | ||
| denheit wissen will, womit wir uns mehr oder minder heuchlerisch in unserer | ||
| Zeit hindurchgelungert und hindurchgefaselt – Dieses neue Geschlecht | ||
| Januar 1846 — HSA Bd. 22, S. 181 | ||
| will genießen und sich geltend machen im Sichtbaren; wir, die Alten, beugten | ||
| uns demüthig vor dem Unsichtbaren, haschten nach Schattenküssen und | ||
| blauen Blumengerüchen, entsagten und flennten, und waren doch vielleicht | ||
| glücklicher als jene harten Gladiatoren, die so stolz dem Kampftode entgegen- | ||
| 5 | gehn. Das tausendjährige Reich der Romantik hat ein Ende, und ich selbst | |
| war sein letzter und abgedankter Fabelkönig. Hätte ich nicht die Krone vom | ||
| Haupte fortgeschmissen und den Kittel angezogen, sie hätten mich richtig | ||
| geköpft. Vor vier Jahren hatte ich, ehe ich abtrünnig wurde von mir selber, | ||
| noch ein Gelüste mit den alten Traumgenossen herum zu tummeln im Mond- | ||
| 10 | schein – und ich schrieb den Atta Troll, den Schwanengesang der unter- | |
| gehenden Periode, und Ihnen habe ich ihn gewidmet. Das gebührte Ihnen | ||
| denn Sie sind immer mein wahlverwandtester Waffenbruder gewesen, in | ||
| Spiel, und Ernst; Sie haben gleich mir die alte Zeit begraben helfen und bey | ||
| der neuen Hebammendienst geleistet – ja, wir haben sie zu Tage gefördert | ||
| 15 | und erschrecken – Es geht uns wie dem armen Huhn das Enteneyer aus- | |
| gebrütet hat und mit Entsetzen sieht wie die junge Brut sich ins Wasser | ||
| stürzt und wohlgefällig schwimmt! | ||
| Ich bin durch Buchhändler-Vertrag verpflichtet den Atta Troll heraus- | ||
| zugeben; das soll in einigen Monathen geschehen, mit Vorsicht, damit man mir | ||
| 20 | nicht den Prozeß macht und mich köpft. | |
| Sie merken, theurer Freund, wie vague, wie ungewiß mir zu Muthe ist. | ||
| Solche schwachmatische Stimmung ist jedoch zumeist in meiner Kränklichkeit | ||
| begründet; schwindet der Lähmungsdruck, der gleich einem eisernen Reif | ||
| mir die Brust einklemmt, so wird auch die alte Energie wieder flügge werden. | ||
| 25 | Ich fürchte jedoch das wird noch lange dauern. Der Verrath der im Schooße | |
| der Familie, wo ich waffenlos und vertrauend war, an mir verübt wurde, hat | ||
| mich wie ein Blitz aus heiterer Luft getroffen und fast tödtlich beschädigt; | ||
| wer die Umstände erwägt, wird hierin einen Meuchelmords-Versuch sehen; | ||
| die schleichende Mittelmäßigkeit, die zwanzig Jahre lang harrte, ingrimmig | ||
| 30 | neidisch gegen den Genius, hatte endlich ihre Siegesstunde erreicht. Im | |
| Grunde ist auch das eine alte Geschichte, die sich immer erneut. | ||
| Ja, ich bin sehr körperkrank, aber die Seele hat wenig gelitten; eine müde | ||
| Blume ist sie ein bischen gebeugt, aber keineswegs welk und sie wurzelt noch | ||
| fest in der Wahrheit und Liebe. | ||
| 35 | Und nun leben Sie wohl, theurer Varnhagen; mein Freund wird Ihnen sagen | |
| wie viel u wie unaufhörlich ich an Sie denke, was um so begreiflicher, da | ||
| ich jetzt gar nicht lesen kann, und bey den langen Winterabenden nur von | ||
| Erinnerungen mich erheitere. | ||
Heinrich Heine | ||
46. Faubourg Poisonnière | ||
| Januar 1846 — HSA Bd. 22, S. 182 | ||