DHA, Bd. 12/1, S.         
 
  JHDErster Brief.
    
  Endlich, endlich erlaubte es die Witterung, Paris und den warmen Kamin
5 zu verlassen, und die ersten Stunden, die ich auf dem Lande zubringe,
  sollen wieder dem geliebten Freunde gewidmet seyn. Wie hübsch scheint
  mir die Sonne aufs Papier und vergoldet die Buchstaben, die Ihnen meine
  heitersten Grüße überbringen! Ja, der Winter flüchtet sich über die Berge,
  und hinter ihm drein flattern die neckischen Frühlingslüfte, gleich einer
10 Schaar leichtfertiger Grisetten, JHDdie einen verliebten Greis mit Spottgeläch-
  ter, oder wohl gar mit Birkenreisern, verfolgen. Wie er keucht und ächzt,
  der weißhaarige Geck! Wie ihn die jungen Mädchen unerbittlich vor sich
  hintreiben! Wie die bunten Busenbänder knistern und glänzen! Hie und
  da fällt eine Schleife ins Gras! Die Veilchen schauen neugierig hervor, und
15 mit ängstlicher Wonne betrachten sie die heitere Hetzjagd. Der Alte ist
  endlich ganz in die Flucht geschlagen und die Nachtigallen singen ein
  Triumphlied. Sie singen so schön und so frisch! Endlich können wir die
  große Oper mistsammt Meyerbeer und Düprez entbehren. Nourrit
  entbehren wir schon längst. Jeder in dieser Welt ist am Ende entbehrlich,
20 ausgenommen etwa die Sonne und Ich. Denn ohne diese beiden kann ich
  mir keinen Frühling denken, und auch keine Frühlingslüfte und keine
  Grisetten, und keine deutsche Literatur! .. Die ganze Welt wäre JHDein
  gähnendes Nichts, der Schatten einer Null, der Traum eines Flohs, ein
  Gedicht von Carl Streckfuß!
25 Ja, es ist Frühling und ich kann endlich die Unterjacke ausziehn. Die
  kleinen Jungen haben sogar ihre Röckchen ausgezogen und springen in
  Hemdeärmeln um den großen Baum, der neben der kleinen Dorfkirche
  steht und als Glockenthurm dient. Jetzt ist der Baum ganz mit Blüthen
  bedeckt, und sieht aus wie ein alter gepuderter Großvater, der, ruhig und
30 lächelnd, in der Mitte der blonden Enkel steht, die lustig um ihn
  herumtanzen. Manchmal überschüttet er sie neckend mit seinen weißen
  Flocken. Aber dann jauchzen die Knaben um so brausender. Streng ist es
  untersagt, bey Prügelstrafe untersagt, an dem Glockenstrang zu ziehen.
  Doch der große Junge, der den übrigen ein gutes Beyspiel geben sollte,
35 kann dem Gelüste nicht widerstehen, er zieht JHDheimlich an dem verbotenen
  Strang, und dann ertönt die Glocke wie großväterliches Mahnen.
  Späterhin, im Sommer, wenn der Baum in ganzer Grüne prangt und das
  Laubwerk die Glocke dicht umhüllt, hat ihr Ton etwas geheimnißvolles,
  es sind wunderbar gedämpfte Laute, und sobald sie erklingen, verstum-
40 men plötzlich die geschwätzigen Vögel, die sich auf den Zweigen wiegten,
  und fliegen erschrocken davon.
 DHA, Bd. 12/1, S.