DHA, Bd. 8/1, S.         
 
  Drittes Buch.
    
  I.
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  Kennt Ihr China, das Vaterland der geflügelten Drachen und der porze-
  lanenen Theekannen? Das ganze Land ist ein Raritätenkabinett, um-
  geben von einer unmenschlich langen Mauer und hunderttausend tar-
  tarischen Schildwachen. Aber die Vögel und die Gedanken der Euro-
10 päischen Gelehrten fliegen darüber und wenn sie sich dort sattsam
  umgesehen und wieder heimkehren, erzählen sie uns die köstlichsten
  Dinge von dem kuriosen Land und kuriosen Volke. Die Natur mit
  ihren grellen, verschnörkelten Erscheinungen, abentheuerlichen Rie-
  senblumen, Zwergbäumen, verschnitzelten Bergen, barock wollüstigen
15 Früchten, aberwitzig geputzten Vögeln, ist dort eine eben so fabelhafte
  Carikatur wie der Mensch mit seinem spitzigen Zopfkopf, seinen
  Bücklingen, langen Nägeln, altklugem Wesen und kindisch einsilbiger
  Sprache. Mensch und Natur können dort einander nicht ohne innere
  Lachlust ansehen. Sie lachen aber nicht laut, weil sie beide viel zu
20 civilisirt höflich sind; und um das Lachen zu unterdrücken schneiden
  sie die ernsthaft possirlichsten Gesichter. Es giebt dort weder Schatten
  noch Perspektive. Auf den buntscheckigen Häusern heben sich, über
  einander gestapelt, eine Menge Dächer, die wie aufgespannte Regen-
  schirme aussehen und woran lauter metallne Glöckchen hängen, so
25 daß sogar der Wind, wenn er vorbeystreift, durch ein närrisches Ge-
  klingel sich lächerlich machen muß.
  In einem solchen Glockenhause wohnte einst eine Prinzessinn, deren
  Füßchen noch kleiner waren als die der übrigen Chinesinnen, deren
  kleine, schräggeschlitzte Aeuglein noch süßträumerischer zwinkten
30 als die der übrigen Damen des himmlischen Reiches, und in deren
  kleinen kichernden Herzen die allertollsten Launen nisteten. Es war
  nemlich ihre höchste Wonne wenn sie kostbare Seiden- und Goldstoffe
  zerreißen konnte. Wenn das recht knisterte und krakte unter ihren
  zerreißenden Fingern, dann jauchzte sie vor Entzücken. Als sie aber
35 endlich ihr ganzes Vermögen an solcher Liebhaberey verschwendet, als
  sie all ihr Hab und Gut zerrissen hatte, ward sie, auf Anrathen sämmt-
  licher Mandarine, als eine unheilbare Wahnsinnige, in einen runden
  Thurm eingesperrt.
  Diese chinesische Prinzessinn, die personifizirte Caprize, ist zugleich
40 die personifizirte Muse eines deutschen Dichters, der in einer Ge-
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