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  sprechen könnte, und jener Lieutenant auffallend falsche Waden und Lenden
  trägt? Was kümmert's diese Damen, ob ich in jener Tänzerinn eine oder zwey
  Personen annehme, und ob ich jenen Lieutenant aus 2/3 Watte und 1/3
  Fleisch, oder aus 2/3 Fleisch und 1/3 Watte bestehen lasse? Was soll man
5 endlich Notizen über Menschen schreiben, von denen man gar keine Notiz
  nehmen sollte?
   
  JDWie man diesen Winter hier lebte, läßt sich von selbst errathen. Das
  bedarf keiner besondern Schilderung, da Winterunterhaltungen in jeder
10 Residenz dieselben sind. Oper, Theater, DConzerte. Assembleen, Bälle,
  Thees (sowohl dansant als médisant), kleine Maskeraden, Liebhaberey-
  Komödien, große Redouten u. s. w., das sind wohl unsere vorzüglich-
  sten Abendunterhaltungen im Winter. Es ist hier ungemein viel geselli-
  ges Leben, aber es ist in lauter Fetzen zerrissen. Es ist ein Nebenein-
15 ander vieler kleinen Kreise, die Jsich immer mehr zusammen zu ziehen
  als auszubreiten suchen. Man betrachte nur die verschiedenen Bälle
  hier; man sollte glauben, Berlin bestände aus lauter Innungen. Der Hof
  und die Minister, das diplomatische Corps, die Civilbeamten, die Kauf-
  leute, die Offiziere etc. etc., alle geben sie eigene Bälle, worauf nur ein
20 zu ihrem Kreise gehöriges Personal erscheint. Bey einigen Ministern
  und Gesandten sind die Assembleen eigentlich große Thees, die an be-
  stimmten Tagen in der Woche gegeben werden, und woraus sich, durch
  einen mehr oder minder großen Zusammenfluß von Gästen, ein wirk-
  licher Ball entwickelt. Alle Bälle der Dvornehmen Classe streben, mit
25 mehr oder minderm Glücke, den Hofbällen oder fürstlichen Bällen
  ähnlich zu seyn. Auf letztern herrscht jetzt fast im ganzen gebildeten
  Europa derselbe Ton, oder vielmehr sie sind den Pariser Bällen nach-
  gebildet. Folglich haben unsere hiesigen Bälle nichts charakteristisches;
  wie verwunderlich es auch oft aussehen mag, wenn vielleicht ein von
30 seiner Gage lebender Secondelieutenant, und ein, mit Läppchen und
  Geflitter, mosaikartig aufgeputztes Kommisbrod-Fräulein, sich auf
  solchen Bällen in entsetzlich vornehmen Formen bewegen, und die
  rührend-kümmerlichen Gesichter puppenspielmäßig kontrastiren mit
  dem angeschnallten, steifen Hofkothurn.
35 Wenig Schnee, und folglich auch fast gar kein Schlittengeklingel und
  Peitschengeknall hatten wir dieses Jahr. Wie in allen protestantischen
  Städten spielt hier Weihnachten die Hauptrolle in der großen Winter-
  komödie. Schon Deine Woche vorher ist alles beschäftigt mit Einkauf
  von Weihnachtsgeschenken. Alle Modemagazine und Bijouterie- und
40 Quinkailleriehandlungen haben ihre schönsten Artikel – wie unsere
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